Bachmann „Alles“

Die Überbringer einer Todesnachricht haben eine schwere Aufgabe vor sich:

„Der Direktor der Schule rief bei mir im Büro an … Ich traf den Mann eine halbe Stunde später in der Halle der Firma. Wir gingen auf die andere Straßenseite ins Kaffeehaus. Er versuchte, was er mir sagen mußte, zuerst in der Halle zu sagen, dann auf der Straße, aber auch im Kaffeehaus fühlte er, daß es nicht der richtige Ort war. Es gibt vielleicht überhaupt keinen richtigen Ort für die Mitteilung, daß ein Kind tot ist.“

Nun liegt die Überbringer-Aufgabe am Ehemann:

„Mittag war gekommen und ich mußte heim und es Hanna sagen. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte und was ich sagte. Während wir von der Wohnungstür weg und durch das Vorzimmer gingen, mußte sie es schon begriffen haben. Es ging so schnell. Ich mußte sie zu Bett bringen, den Arzt rufen. Sie war ohne Verstand und bis sie bewußtlos wurde, schrie sie. Sie schrie so entsetzlich wie bei seiner Geburt, und ich zitterte um sie wie damals. Wünschte wieder nur, Hanna möge nichts geschehen. Immer dachte ich: Hanna! Nie an das Kind.“

Und das Leben nach dem Verlust. Wie geht es weiter?

„Wenn wir uns, wie zwei Versteinte, zum Essen setzen oder abends an der Wohnungstür zusammentreffen, weil wir beide gleichzeitig daran denken, sie abzusperren, fühle ich unsere Trauer wie einen Bogen, der von einem Ende der Welt zum anderen reicht – also von Hanna zu mir – und an dem gespannten Bogen einen Pfeil bereitet, der den unbewegten Himmel ins Herz treffen müßte.“

Sprachlosigkeit in Paarbeziehungen

Sprachlosigkeit ist das Thema in Ingeborg Bachmanns Erzählung „Alles“, aus der ich hier zitiere (siehe dazu I. Bachmann, Das dreißigste Jahr, Piper-Verlag, München 2005). Die Geschichte, geschrieben 1956/57, wird ausschließlich aus der Perspektive des namenlosen Ehemannes und Vaters erzählt. Die Zeit vor und nach dem Unfall-Tod seines Sohns bildet den Spannungsbogen von „Alles“. Während des Lesens erfährt man, wie wenig er ein guter Vater sein konnte, wie hoch seine Ansprüche an die Erziehung seines Sohns waren. Ansprüche, denen er nicht genügen konnte. Die Missverständnisse bezüglich der Entwicklung des Sprösslings entstehen weniger im Sprechen, eher durch das Schweigen der Eheleute. Die inneren Monologe des Vaters scheinen ihm selbst zu genügen. Er sieht keine Notwendigkeit, seine Gedanken zu offenbaren. Auch die Ehefrau ist eine „Sprachlose“, die jedoch ihre Ängste und Unsicherheiten mit Geduld und Zuwendung gegenüber dem Kind zu kompensieren versucht. Die Sprachlosigkeit des Ehepaars erfährt durch den plötzlichen Unfalltod des Sohnes eine weitere Verschärfung. Ein gemeinsamer Schmerz kann ein verbindendes Element sein; in der Erzählung von Bachmann ist dies definitiv nicht der Fall.

Moderne Trauerstory

Hier habe ich erwähnt, dass „Alles“ eine zeitlose Geschichte ist. Auch 60 Jahre nach der Veröffentlichung hat Bachmanns Erzählung nichts an Aktualität verloren. Die Zweifel an der richtigen Erziehungsmethode und die Einsicht des Vaters als Vorbild kläglich zu scheitern, wird an vielen Textstellen deutlich. Er hofft, dass das Kind seinen eigenen Weg in der (Nachkriegs)Welt findet – ja sich sogar in seinem Mensch-Sein neu erfindet. Das geschieht nicht. Der Kleine ist ein schwieriges Kind, auch hin und wieder böse gegenüber Gleichaltrigen. Die Unzulänglichkeit der eigenen Sprache ist dem Ehemann sehr bewusst. Wie die richtigen Worte finden? Dieses selbst empfundene Sprach-Dilemma wird in „Alles“ noch durch Sprachlosigkeit ergänzt. Sie durchzieht Bachmanns Erzählung wie einen roten Faden; Sprachlosigkeit in Paarbeziehungen, die sich auch dann nicht auflöst, als der Sohn stirbt.

Welche Konsequenz lässt sich heutzutage aus dieser Trauergeschichte ziehen? – Wahrscheinlich gibt es dazu viele Einsichten und Meinungen. Ich versuche es mit einem kurzen Appell: Lasst uns mehr miteinander reden: Als Paar, als Familie, als Freundinnen und Freunde. Lasst uns Leben statt zu Versteinern. Lasst uns Trauern und darüber sprechen.

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