Letztes Jahr hatte ich eine ältere Dame im Trauercoaching, die mit ihren 83 Jahren noch sehr agil wirkte. Ich nenne sie hier im Text „Gudrun“. Gudrun bezeichnete sich selbst als humorvolle, zuversichtlich denkende Frau, die bisher die „Klippen des Lebens“ gut umschifft hat. Das änderte sich bei ihr vor etwa vier Jahren. Zu diesem Zeitpunkt verlor sie ihren Ehemann und kurz darauf ihr einziges Kind, einen Sohn. Er wurde 48 Jahre alt und starb überraschend während eines Urlaubs am Meer. Taucherunfall, wie Gudrun kurz und knapp das Unglück zusammenfasste.
Auf meine Frage, wie sie im Alltag mit ihrer Trauer umgeht, sagte sie nur „weiter leben“. Nun hatte dieses Wort für die 83-jährige noch eine weitere Bedeutung, die im Verlauf des Coachings zur Sprache kam. Sie las zum Zeitpunkt unserer Treffen das Buch „weiter leben“ von Ruth Klüger. Die Österreicherin Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren und 2020 in Kalifornien verstorben, gilt als eine wichtige Zeitzeugin des Holocaust. Sie überlebte drei Konzentrationslager: Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt/Groß Rosen.
Gudrun kam bereits in das erste Trauercoaching mit dem besagten Buch und eröffnete mir, dass sie ihre Trauer mit mir diskutieren und dazu die „Merksätze“ in Klügers Aufzeichnungen nutzen möchte. Hier eine kleine Zitatenauswahl (in kursiver Schrift) und die jeweiligen Anmerkungen von Gudrun, wie ich sie noch in Erinnerung habe…
Es ist schon wichtig, wie uns wo einem etwas passiert, nicht nur was einem passiert. Besonders der, besonders die Tode, weil es ihrer so viele gibt, liegt viel daran, welchen Tod man stirbt.
Als wir über diese beiden Sätze sprachen, wurde deutlich, dass Gudruns Kummer über den Verlust ihres Mannes weniger der Tatsache geschuldet war, dass er gestorben ist. Vielmehr litt sie darunter, dass sie sich in Corona Zeiten nicht von ihrem Günter verabschieden konnte. Angehörige durften im Jahre 2020 ihre Lieben nicht im Krankenhaus besuchen und Abschied am Sterbebett zu nehmen, war auch nicht möglich. Begräbnisse konnten oftmals nur mit wenigen Trauergästen durchgeführt werden. Das alles nagte an Gudrun, auch wenn sie durchaus Verständnis für die damaligen politischen Entscheidungen hatte.
Die kann nicht im KZ gewesen sein, sagte die Frau. Sie hätte sagen müssen. Die war zu jung zu Überleben, nicht zu jung, um dort gewesen zu sein. Denn dass auch Kleinkinder, viel jünger als ich verschleppt wurden, gehört zur Allgemeinbildung der Deutschen… Somit wird auch hier ein Bedürfnis der Erwachsenen gestillt, das Erlebnisvermögen der Kinder in Frage zu stellen.
Ich bin Jahrgang 1940 und keine KZ-Überlebende, stellte Gudrun nach dem Vorlesen dieser Zeilen sachlich fest. Die Tatsache jedoch, dass sie selbst als Kind viele schreckliche Nachkriegserlebnisse hatte, die von den Erwachsenen abgetan wurden nach dem Motto „Du warst ja noch ein Kind, so genau kannst du das gar nicht wissen“, empörte Gudrun bis heute. Sie meinte dazu: Es scheint eine Konkurrenz zu geben zwischen dem Erlebnisvermögen eines Kindes und einer erwachsenen Person. Das habe ich selbst erfahren und es stimmt mich immer noch traurig. Krüger hat in diesem Punkt absolut recht!
Hunger! Man kann wenig über chronischen Hunger sagen; er ist immer da, und was immer da ist, ist langweilig im Erzählen. Er schwächt, er nagt. Er nimmt im Gehirn Platz ein, der sonst für Gedanken reserviert wäre.
Ich kann nur sagen: Das stimmt total, was die Krüger hier schreibt, sagte Gudrun resolut und bekam feuchte Augen. Immer, wenn ich Berichte von Hungernöten im Fernsehen sehe oder darüber lese, denke ich: Mein Gott, diese Menschen werden im Denken, in ihrer geistigen Entwicklung gestört. Hunger besetzt wirklich das ganze Sein. Man kann nicht denken, Hunger frisst von innen auf… Warum fällt mir jetzt noch der Satz ein „Erst kommt das Fressen, dann die Moral…“ von wem ist das nochmal? Wissen Sie es, Frau Pink?
Wo kein Grab ist, hört Trauerarbeit nicht auf. Mit Grab meine ich nicht eine Stelle auf dem Friedhof, sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden.
Als Gudrun mir diese Buchstelle vorlas, meinte sie nach einer längeren Denkpause: Menschen trauern eigentlich immer. Ich trauere auch immer. Nun ist es aber so, dass andere meine Trauer gar nicht als Trauer einstufen können oder vielleicht auch nicht wollen. Noch vor zwei Jahren war ich darüber entsetzt. Jetzt, da ich selbst im Winter meines Lebens angekommen bin, weiß ich, dass Trauer niemals enden wird. Ich nehme sie mit ins Grab. Liebe Frau Pink, Sie haben das in einem Blogbeitrag so schön ausgedrückt „Trauerzeit ist Perlenzeit“. Ich trauere also um meine Perlen und bin dankbar, dass ich so kostbare Menschen in meinem Leben kannte…