Hilflosigkeit ist ein Scheißgefühl

Es gibt nicht nur graue Novembertage, auch Tage im Februar sind nicht dazu geeignet, meine Stimmung zu heben. Nicole sagte diesen Satz ganz langsam und sehr leise. Simone, ihre Freundin, die sie beim Waldspaziergang begleitete, musste genau hinhören, um ihre Worte zu verstehen.

Seit Nicole ihren Bruder durch einen Verkehrsunfall verloren hat, hat sich ihre Stimme verändert, dachte Simone und nach einigen schweigsamen Minuten blieb sie stehen und sah ihre Freundin mit ernster Miene an. „Ich mache mir wirklich Sorgen um dich“ sagte sie und wirbelte dabei mit ihren Füßen das Laub auf. Als sie bemerkte, dass Nicole auf ihre Bemerkungen nicht reagierte, trat sie näher und schüttelte ihre Freundin. Sie packte Nicole an beiden Schultern und redete eindringlich auf sie ein: „Ich mache mir Sorgen um dich!!!“ Nicole sah sie an, nickte und meinte nur leise „Lass uns weitergehen…“

„Nein! Wir gehen nicht weiter! Holger ist nun seit mehr als zwei Jahren tot. Ok, ihr hattet ein inniges Schwester-Bruder-Verhältnis, doch du hast dich so stark verändert, dass ich nicht mehr weiß, ob ich dir überhaupt noch als Freundin wichtig bin und ob du mich überhaupt noch wahrnimmst!“

„Natürlich bist du das“, war wieder mit matter Stimme Nicole zu vernehmen. „Lass uns bitte nicht über Holger reden. Auch nicht mehr über mich. Ich bin einfach nur müde…“

Simone schwieg. Sie schwieg während der Rückfahrt im Auto. Sie setzte Nicole schweigend vor ihrer Wohnungstür ab und fuhr nach Hause. Sie fühlte sich nutzlos. Nein, sagte sie zu sich selbst, ich fühle mich hilflos. Nicole trauert und sie sieht mich nicht. Sie ist hilflos – doch ich bin es auch. Simone erinnerte sich an das Buch „Die hilflosen Helfer“, das sie vor langer Zeit gelesen hatte und dessen Autor ihr allerdings nicht mehr einfiel. Muss ich vielleicht mal wieder lesen, murmelte sie vor sich hin. Hilflosigkeit ist ein Scheißgefühl, dachte sie bevor sie einschlief.

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