Der Tod der Eltern oder: Wir sitzen alle im selben Boot

Wir sitzen doch alle im selben Boot, das sagt mir Rainer, einfach so. Wer bitte ist „wir“ und wer ist „alle“ und was heißt hier „im selben Boot?“, erwidere ich leicht gereizt. Diese dämliche Floskel, die mich schon immer gestört hat. Oder erst seit einigen Jahren nervt? Egal: Sie stört mich jetzt, wenn mein Bruder sie mir an den Kopf wirft.

Nun reg´ dich mal nicht auf, meint er mit leiser Stimme, die darauf abzielt, einen Streit zu vermeiden. Typisch Rainer! Wenn ich mich echauffiere, macht er einen Rückzieher, will seine Worte ungeschehen machen. Fakt ist jedoch: Sprache in die Welt gesetzt, ist ein unbarmherziger Akt. Nichts holt den Satz mehr zurück.

Kopfschüttelnd verlässt er mein Zimmer. Es ist mein ehemaliges Jugendzimmer. Ich rufe: Bleib stehen. Er tut so, als hört er mich nicht. Mit schnellen Schritten ist er auch schon aus dem Haus gegangen. Kein Wunder, das kleine Häuschen unserer Eltern misst nur knappe 120 Quadratmeter. Es ist rasch durchquert.

Das Haus steht zum Verkauf. Mama und Papa sind tot. Verkehrsunfall. Mein Bruder und ich sind Alleinerben. Es gibt keine weiteren Verwandten mehr, auch keine Enkel. Nur noch zwei Nachbarn, rechts und links unseres Anwesens im Aichelwangweg 23, die mit unseren Eltern befreundet waren.

Ich laufe im Zimmer auf und ab, schimpfe vor mich hin und denke angestrengt nach. Vor Rainers Bemerkung „Wir sitzen alle im selben Boot“ ging es in unserem Gespräch darum, dass auch andere Geschwister nach dem Tod der Eltern, Häuser und Wohnungen auflösen müssen. Auch andere haben das Problem, dass für Entrümpelungs-Aktionen während der Trauer oft die Kraft fehlt. Auch andere haben das Problem, dass man mit den Eltern zu selten darüber gesprochen hat, was mit ihrem Hab und Gut geschehen soll, wenn sie verstorben sind. Auch andere haben das Problem…

Ich höre, dass die Haustür geöffnet wird. Kurz erschrecke ich, dann steht Rainer wieder im Zimmer. Ich habe meine Jacke mit dem Autoschlüssel vergessen, sagt er fast entschuldigend. Ich schaue mich um und sehe, dass seine sichtlich abgetragene Lederjacke auf dem braunen Sessel liegt. Eigentlich ist „liegen“ nicht der passende Ausdruck, weil sie schon fast vollständig auf den Fußboden gerutscht ist. Ich betrachte den Laminatboden, der schon bessere Tage gesehen hat. Ich merke, dass mich der anstehende Hausverkauf belastet.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, meint Rainer: Wir sollten uns einen Makler nehmen. Ich nicke. Und Schwesterherz, führt er weiter aus, du weißt doch: Zank ist Gefecht. Man kann sich zanken über Schiller, Liebe und Kaffeeflecke. Feindlich sitzt jeder in seiner Ecke…

Ich schaue ihn überrascht an. Seit wann dichtest du?

Tue ich doch gar nicht, antwortet er leise. Der Vers ist von Mascha Kaléko. Ich mag ihre Gedichte.

Aha, sage ich, immer noch verwundert. Ich wusste gar nicht, dass du eine lyrische Ader hast.

Dann bin ich wenigstens für diese Überraschung gut, grinst Rainer, zieht seine Lederjacke an und ergänzt: Wenn wir uns auf einen Makler einigen, sitzen wir doch im selben Boot, oder?

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