Der schlafende Frosch

Ein gelungenes Kunstwerk, bemerkte Stefan anerkennend. Er blickte dabei auf den Frosch auf dem Grabstein und sagte zu seiner Begleitung: „Ich vermute, dass die meisten irritiert oder gar fassungslos das Grab meines Vaters betrachten: Oh Gott, ein nackter Frosch, der auf dem Rücken liegt. Was für eine unpassende Figur! Manche fragen sich vielleicht auch: Ob der Tote ein Froschfan war? Vielleicht ein Biologe, Schwerpunkt bedrohte Froscharten?“ Fritz lachte und meinte: „Stefan, wie gut, dass du keinen Einblick in die Gedankenwelt anderer Menschen hast. Apropos Gedankenlesen, wusstest du, dass…“

Während sich die beiden Männer langsam Richtung Ausgang bewegen und ihre Stimmen nicht mehr wahrzunehmen sind, werden sie von einer Frau beobachtet, die sich erst dann der Grabstätte nähert, als Stefan und Fritz außer Sichtweite sind. Ja, dachte Sabine. Dieser Frosch ist wirklich eine ungewöhnliche Figur; er fällt auf inmitten der üblichen Gräber und Grabplatten. Justus hätte es bestimmt gefallen. Sabine seufzte. Justus, der Verstorbene, war ein guter Chef, ja das war er. Und sie als seine Sekretärin stand ihm jahrelang loyal zur Seite. Sie und Justus waren ein eingespieltes Team auf Augenhöhe. Naja, natürlich nicht ganz, weil er als Professor in der Hierarchie höher angesiedelt war. Er hatte ihre Loyalität und ihr Know-how als „Managerin“ sehr geschätzt. Sie war für ihr keine Lehrstuhl-Sekretärin, sondern eine Office Managerin. Er benutzte diesen Begriff sehr bewusst und sie freute sich über seine Anerkennung.

Privat kannte sie auch die Familie von Justus sehr gut, sowohl Justus Frau als auch seinen Sohn Stefan. Kurz dachte sie nach, warum sie nicht ans Grab treten wollte, als Stefan mit seinem Begleiter dort stand. Sie fand schnell eine Antwort: Sie wollte mit Justus hier am Grab alleine „reden“, ihm sagen, dass es nach seinem Tod nie wieder einen so angenehmen Chef wie ihn gegeben hat. Sabine erzählte dem Verstorbenen auch, dass sie in sechs Monaten in Rente gehen wird. Ich bin erschöpft, sagt sie. Und, Justus, ich habe 45 Jahre gearbeitet, davon 22 Jahre mit dir als Vorgesetzten. Es reicht. Ich werde wahrscheinlich nach Itzehoe ziehen. Meine betagte Mutter lebt noch und es ist genügend Platz in meinem Elternhaus. Ich werde dich also nicht mehr so oft hier auf dem Friedhof besuchen. So dachte Sabine und bewegte dabei lautlos ihre Lippen.

Ich will dir auch noch sagen, dass Stefan eine witzige Idee mit diesem Frosch hatte. Ich weiß, dass du in deinem großen Gartenteich immer gerne Frösche beobachtet hast. Dein Sohn hat Humor, keine Frage. Ich glaube, dass nur Eingeweihte den ungewöhnlichen Grabstein mit dem blauen Keramikfrosch zu würdigen wissen. Andere werden sich verwundert die Augen reiben oder ungläubig den Kopf schütteln. Doch du konntest schon immer mit deinem „Anderssein“ gut umgehen und hast es auch bei anderen geschätzt und sich über ihre Eigenarten nie herablassend geäußert. Leb wohl, schlafender Frosch!

Dann ging auch Sabine Richtung Friedhofsausgang.

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