Das Leben bis dreiunddreißig

Pilot, Kameramann, Förster, Schachspieler, Taucher, Hundetrainer – mein Gott, was wollte ich alles mal werden, lacht Philipp. Seine Frau Anja sitzt auf einem Stuhl dicht neben ihm und nickt. Vor kurzem noch stand der Arzt am Krankenbett von Philipp. Er hatte eine gute Nachricht für die beiden: Philipp kann in zwei Tagen nach Hause.

Beide atmen auf. Sie wissen, sie gewinnen Zeit. Der Tumor im linken Lungenflügel gibt Ruhe. Die Beobachtung ist engmaschig geplant. Doch erstmal darf sich der schwache Körper auf die gewohnte Umgebung wieder einstellen. Es geht bald nach Hause in die schöne, gemeinsame Dreizimmer-Wohnung.

Ja, du wolltest viele Berufe gleichzeitig ausfüllen, scherzt Anja und knüpft an den letzten Satz von Philipp an. Und jetzt bist du dreiunddreißig Jahre alt und engagierter Sozialpädagoge für schwer erziehbare Jugendliche. Verhaltensauffällige Jugendliche, korrigiert Philipp sanft und spricht dann mit ernstem Gesichtsausdruck weiter: Wenn ich an die letzte Drogengeschichte von Jonas denke, weiß ich, wie anstrengend die vergangenen Monate im Job waren. Und nun der Lungenkrebs bei mir. Wie gut, dass er rechtzeitig entdeckt wurde. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass dir das als Nichtraucher passiert ist, merkt Anja kopfschüttelnd an. Jetzt kann ich zuversichtlich sein, erwidert er und freut sich sichtlich auf die morgige Entlassung aus der Klinik.

Drei Wochen später war Philipp tot. Er lag morgens mit friedlichem Gesichtsausdruck im Bett. Anja hatte Frühstück gemacht und wunderte sich, dass ihr Ehemann noch nicht aufgestanden war.

Die Zeit danach erlebte sie wie in Trance. Sie fühlte sich überfordert von Dingen, die sie zuvor mit Leichtigkeit händeln konnte. Welche Milch sie im Supermarkt kaufen oder welchen Käse sie auswählen sollte, waren für sie nun große, schwer zu lösende Aufgaben. Doch diese Kleinigkeiten verblassten angesichts der Tatsache, dass Anja fast ständig weinen oder schreien musste. Vor allem wenn sie alleine war, bekam sie oft Schreikrämpfe. Es war ihr dann völlig egal, was andere über sie dachten. Manchmal zog sie sich die Joggingschuhe an und lief eine Runde in dem kleinen Park ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Doch während des Laufens weinte sie meistens so herzzerreißend, dass ihr verwunderte Blicke folgten. Einmal saß sie auf einer Bank in der Nähe eines Einkaufszentrums. Dieses Mal wurde sie von einem lauten Schluchzen erfasst. Als eine Stimme sagte „Kindchen, was ist denn mit Ihnen los?“, machte sie eine abwehrende Bewegung. Am anderen Ende der Bank saß ein älterer Herr, der sich nun erhob, ihr eine Packung Papiertaschentücher hinschob und langsam weiterging. Anjas erster Impuls war, ihm etwas nachzurufen, sich vielleicht zu entschuldigen für ihre schroffe Ablehnung, doch sie schluchzte einfach weiter. Als es dunkel wurde, setzte sie sich ins Auto und fuhr in die Wohnung. Die leere Wohnung ohne Philipp.

Vor der Eingangstür stand ein kleiner Marmorkuchen auf einem großen Teller, daneben ein Zettel, geschrieben in Kinderschrift. Sie wusste sofort, dass es Jan war, der Nachbarjunge. Sie verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Wie lieb. Jan versuchte sie zu trösten und eigentlich ja auch der alte Mann von heute Nachmittag auf der Bank. Ein fremdes Trostangebot, das sie abgelehnt hatte. Sie nahm den Teller, öffnete die Tür und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass IHR LEBEN weitergeht. Morgen werde ich auf alle Fälle ein Stück vom Marmorkuchen essen. Morgen ist ein neuer Tag, dachte Anja – und wunderte sich selbst über diesen Satz.

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